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Maschinelles Lernen hilft bei Sepsis-Früherkennung

Wissenschaftler finden bisherige „Schwachstelle“ bei ML-Modellen

Forscher der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) und des Interdisziplinären Zentrums für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) der Universität Heidelberg arbeiten im Rahmen eines Verbundprojekts mit dem Titel Scientific Computing for the Improved Diagnosis and Therapy of Sepsis (SCIDATOS), zu Deutsch Wissenschaftliches Computing zur Verbesserung der Diagnose und Therapie von Sepsis, an neuen Methoden zur Früherkennung dieser lebensbedrohlichen Komplikation bei Infektionskrankheiten. Dabei setzen sie auf die innovativen Methoden Maschinellen Lernens. Die Maschinenlernmodelle, sogenannte ML-Modelle, sollen die ärztliche Entscheidung über eine zeitnahe und zielgerichtete Antibiotikatherapie unterstützen – mit dem Ziel, das akute Überleben betroffener Patienten zu verbessern und gleichzeitig das Risiko für die Entstehung von Antibiotikaresistenzen zu reduzieren.

Bei einer Sepsis antwortet der Körper auf eine meist durch Bakterien verursachte Infektion, indem er die eigenen Gewebe und Organe schädigt, bis hin zum Organversagen, wie die an SCIDATOS beteiligten Wissenschaftler erläutern. Eine Sepsis bedeutet somit einen lebensbedrohlichen Zustand und ist eine der häufigsten Todesursachen auf Intensivstationen. Immerhin steht die Sepsis mit jährlich über 280.000 neuen Fällen in Deutschland und einer Sterblichkeit von rund 30 Prozent momentan an dritter Stelle in der Sterblichkeitsstatistik, wie das Universitätsklinikum Jena betont. Für das Überleben einer Sepsis sei es entscheidend, sie rechtzeitig zu erkennen und gezielt antimikrobiell zu behandeln, erläutern Fachleute. Hierfür bleibt demnach meist nur ein Zeitfenster von wenigen Stunden!

Doch bislang gibt es noch keinen raschen und zuverlässigen diagnostischen Test für das heterogene Krankheitsbild der Sepsis. Daher hängt die Entscheidung über die zeitkritische Therapie mit einem Antibiotikum nach wie vor wesentlich von der ärztlichen Einschätzung im Einzelfall ab. Ein prophylaktischer Einsatz von Antibiotika bietet sich dabei nicht an, weil dem das Risiko von Antibiotikaresistenzen entgegensteht – und die fordern ebenfalls viele Todesopfer, allein in Europa jährlich rund 35.000, wie die Wissenschaftler betonen.

Es geht um Menschenleben

Dies erklärt den Wunsch nach einer verlässlichen Früherkennung der Sepsis. Schließlich kann es in einem solchen Fall um Menschenleben gehen. Was liegt da näher, als sich – wie dies in anderen Bereichen der Medizin längst geschieht – moderner Technologien zu bedienen? So wird gerade in diesem Fachbereich das große Potenzial der Künstlichen Intelligenz (KI) besonders deutlich, indem Behandlungsmethoden durch den Einsatz von intelligenter Software immer besser werden: Seien es Apps zur Früherkennung von Krankheiten oder personalisierte Krebstherapien, intelligente Systeme erweitern z.B. die Diagnose- und Therapiemöglichkeiten von Ärzten ganz erheblich – und dienen damit dem Wohl von Kranken ebenso wie der Prävention von Erkrankungen.

Künstliche Intelligenz unterstützt mit ihren Möglichkeiten zur Analyse von großen Datenmengen und der Suche nach Mustern darin bei vielen wissenschaftlichen Fragestellungen und bei Entscheidungen in sehr komplexen Situationen. In der Medizin geschieht dies ganz konkret schon bei der Auswertung von medizinischen Bildaufnahmen. So haben etwa Praxisanwendungen des Deutschen Krebsforschungszentrums und der Universitätshautklinik Heidelberg zeigen können, dass KI bei der Erkennung von schwarzem Hautkrebs KI sehr gute Ergebnisse liefert, wie das Bundesforschungsministerium (BMBF) berichtet. KI fungiert hier als wertvoller digitaler Assistent. Die Entscheidung über die Diagnose und eine etwaige Therapie hingegen fällt weiterhin ein Mensch, in diesem Fall der Hautarzt.

Da Daten in der gesamten Medizin eine wichtige Rolle spielen, sei es im Bereich der medizinischen Routineversorgung oder in konkreten komplizierteren Krankheitsfällen, hat das BMBF unterdessen eine Medizininformatik-Initiative ins Leben gerufen. Sie zielt darauf ab, Daten aus der Patientenversorgung und der Forschung zusammenzuführen und für unterschiedliche Verwendungen nutzbar zu machen. Hierbei sollen Datenschutz, Verantwortung und Transparenz jedoch hohe Priorität genießen, wie das Ministerium versichert. Außerdem hat die Bundesregierung mit der „Strategie Künstliche Intelligenz“ grundlegende Rahmenbedingungen geschaffen, die es Wissenschaftlern, Unternehmen und Anwendern ermöglichen sollen, KI als innovatives Werkzeug für die Lösung von Problemen einzusetzen.

Die an dem Verbundprojekt SCIDATOS beteiligten Forscher nun machen sich die heutige Verfügbarkeit engmaschig erhobener elektronischer Versorgungs- und Überwachungsdaten von der Intensivstation zunutze, um bei der Entwicklung von Modellen für die individuelle Früherkennung der Sepsis mithilfe moderner Methoden des Maschinellen Lernens voranzukommen. Die ML-Modelle sollen Ärzte in dem konkreten lebensbedrohlichen Zustand einer Sepsis, wenn der Körper als Antwort auf eine Infektion die eigenen Gewebe und Organe schädigt, die richtige Entscheidung über eine zeitnahe und zielgerichtete Antibiotikatherapie erleichtern. Das kann im akuten Fall die Aussichten des betroffenen Patienten, zu überleben, deutlich verbessern und gleichzeitig das Risiko der Entstehung der ebenfalls gefürchteten Antibiotikaresistenzen vermindern.

Machine Learning-Daten sollen auch Verständnis einer Sepsis verbessern

Von interpretierbaren ML-Modellen werde außerdem erwartet, dass sie das Verständnis darüber, wie eine Sepsis entsteht, verbessern, indem sie neue Zusammenhänge in Patientendaten sichtbar machen, betonen die Wissenschaftler. Die ML-Modelle sollen deshalb auch dazu beitragen, neue diagnostische Tests und Therapien entwickeln zu können.

So weit, so gut. Doch bislang stehe der Nachweis eines klinischen Nutzens von ML-Modellen für die Diagnose und Behandlung der Sepsis leider noch aus, bemerkt Professor Dr. Manfred Thiel, Verbund-Koordinator an der UMM, kritisch. Doch die SCIDATOS-Verbundpartner haben nun eine Schwachstelle identifiziert, die sie nach eigener Aussage als Hauptursache dafür ansehen, dass ML-Modelle bislang eine Sepsis noch nicht sicher diagnostizieren konnten. Dieser „Knackpunkt“ soll die Definition des Vorhersageziels sein, auf das das ML-Modell trainiert wird. In der bisher gängigen Praxis werde das Lernziel indirekt durch die automatisierte Abfrage klinischer Kriterien aus der Patientenakte definiert, erläutert Verbundpartner Professor Dr. Stefan Riezler vom IWR das von ihm Zirkularität genannte Phänomen. Demnach können ML-Modelle nichts anderes vorhersagen als das, was sie vorherzusagen gelernt haben. Entsprechend rekonstruieren sie genau jene Lernzieldefinition.

Zur Überprüfung dieser Schwachstelle haben die Projektpartner zusammen mit den Oberärzten der Operativen Intensivstation an der UMM eine elektronische Fragebogenerhebung initiiert. Darin wird täglich für jeden Patienten eine strukturierte Zustandsbewertung hinsichtlich der Sepsis, die sogenannte klinische Ground Truth, erfasst, wie die Beteiligten berichten. Unter Ground Truth versteht man bei Machine Learning Daten, die es erlauben, die Qualität von Modellen zu überprüfen. Mithilfe der Ergebnisse aus dem ersten Jahr dieser sogenannten Ground Truth-Erhebung konnte der Forscher-Verbund nun erstmalig zeigen, dass die gängige automatisierte Definition der Sepsis als Lernziel in der Patientenakte der klinischen Ground Truth in fast der Hälfte der Fälle hinterherhinkt oder die Sepsis nicht nachweisen kann.

Lernziel immer aktualisieren

Daher gelte es, solange kein verlässliches Testverfahren als Goldstandard für die Sepsis-Diagnose zur Verfügung steht, das Lernziel für ML-unterstützte Diagnosemodelle der Sepsis auf Basis der Ground Truth stetig zu aktualisieren, resümieren Erstautor Privatdozent Dr. Holger A. Lindner und Seniorautorin Privatdozentin Dr. Dr. Verena Schneider-Lindner, beide vom UMM. Für sie stellt das klinische Ground Truth ein lebendiges Konzept dar. Denn ML-Verfahren könnten ihr Potenzial zur Verbesserung der Patientenversorgung nur dann voll entfalten, wenn ein klinisches Vorhersageziel und die jeweilige Diagnose in der Praxis nachweislich übereinstimmen, steht für sie fest.

SCIDATOS, das Verbundprojekt der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) und des Interdisziplinären Zentrums für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) der Universität Heidelberg zum Scientific Computing for the Improved Diagnosis and Therapy of Sepsis wird von der Klaus Tschira Stiftung (KTS) gefördert.

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Illustration: shutterstock.com

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